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66° Nord 33' 55''

„Wie lange noch?“ ruft Rolf herüber, „langsam wird es ungemütlich“.
„Lass uns noch etwas warten, wir müssen Geduld haben“ antworte ich ihm.
Die Kälte zieht, trotz vier T-Shirts und dicker Outdoorhosen, langsam an den Beinen hoch, dazu die schwere Dunkelheit, nur schwach gemildert durch die Sterne am wolkenfreien Himmel, die leicht im Schnee reflektieren. Herrlich weißer Schnee, kniehoch, frisch von gestern. Aber nichts passiert. Nichts. Unsere Freunde warten ein paar Meter weiter, flüsternd, sanft bibbernd. Hoffen auf das Ereignis.
„Diese verdammte Kälte heute Nacht, warum haben wir das gemacht?“ frage ich meine Frau.
    Da, langsam, fast ängstlich, bildet sich ein helles Licht am Himmel und formiert sich zu einem leichten Lichtschleier, zieht uns in den Bann. Ich nehme die Kamera zur Hand, montiere sie auf das Stativ und prüfe dabei unentwegt die Veränderungen über uns. Es wird heller. Weißlich, mit einem zarten Grün und einem Hauch Rot formiert sich das Nordlicht, fängt an zu wabern, setzt sich leicht in Bewegung, baut sich auf, hat den Himmel in dieser mondleeren Nacht für sich allein. Wir genießen das Schauspiel, ziehen die Blende an der Kamera auf, halten für einen Moment den Atem an, aus Angst wir könnten das Polarlicht verjagen. Es wird größer, breiter – Bild um Bild presse ich auf den Chip und erfreue mich an dem nächtlichen Schauspiel, vergessen ist die Kälte an den Beinen, vergessen das lange Warten, es zählt das Hier und Jetzt. Jetzt verstehen wir, weshalb die Samen früher davon sprachen, dass die Seelen der Vorfahren als Fuchs am Himmel entlangrennen. Das Rot wird stärker, überschlägt sich, breitet sich aus, wird breiiger und zugleich leuchtet der Kopf des Fuchses, während sich im Schweif die Farben langsam verlieren. Das Licht bildet sich allmählich zurück, die Farben werden milchiger, der himmlische Vorhang löst sich auf, verschwindet ebenso sanft wie er gekommen ist - die Dunkelheit breitet sich wieder aus, als wäre nichts geschehen.  Jetzt spüren wir sie wieder, die eiskalte Luft, die an den Beinen emporklettert, ich nehme die Kamera, wir packen alles zusammen und gehen zurück ins Ferienhaus.
    Der Kaminofen ist noch an, blubbert vor sich hin, die Wärme heißt uns willkommen, empfängt uns mit einer Herzlichkeit, die gut tut. Saugut.
    „Lass uns die Fotos anschauen“ meint Rolf. Die Neugierde wollen wir sofort befriedigen und schauen sie uns auf dem Monitor an. Was ist das? Geballtes Licht macht sich breit, das Polarlicht sieht noch gewaltiger aus als in der Natur, kräftige Farben, insbesondere das Grün sticht hervor, und der breite Vorhang, der sich wegen der langen Belichtungszeit gebildet hat, lässt das himmlische Spektakel noch imposanter, fast unwirklich, erscheinen. Überglücklich nehmen wir mit einem gut temperierten Rotwein am Kaminofen Platz und freuen uns über den heutigen Abend. „Morgen, sage ich in die Runde, wo die kalten Füße Richtung Feuer zeigen, wird es nicht ganz so kalt wie heute“.

Der Morgen erwacht, der Blick auf das Thermometer empfiehlt gute Kleidung, denn minus 25° sind auch bei trockener Kälte spürbar, wenngleich wir uns gut davor schützen können. Nach dem Frühstück packen wir die Autos, prüfen die Wohnung ob wir nichts vergessen haben und sind startklar. Mit Rolf schaue ich mir noch einmal die Route an „Wollen wir uns in Kiruna treffen oder in Gällivare noch einen Kaffee nehmen“ fragt Rolf und wir stimmen für den Kaffee. „Gut, dann lass uns getrennt fahren, telefonisch sind wir in Lappland immer gut erreichbar.“ höre ich mich sagen.  Das Auto ist vorgewärmt, die dicken Jacken ausziehen, damit der Puffer des Sicherheitsgurtes bei einem möglichen Unfall nicht den Schutz verliert. Langsam rollt das Auto vor, der Schnee knirscht unter den breiten Reifen, die Spikes graben sich fast unmerklich in die Eisdecke ein, geben halt. Optisch bestehen die Straßen nur aus Eis und Schnee. Manches Mal wird warmer Split, der sich sofort in das Eis einfrisst, gestreut. Heute jedoch nicht.
    Die leichte Dämmerung begleitet uns seit dem Vormittag, zwischen Mitte Dezember und Mitte Januar ist nördlich des Polarkreises, wo wir uns befinden, keine Sonne zu sehen. Eine mystische Stimmung, die mich immer wieder in den Bann zieht, beeindruckend für einen Urlaub, deprimierend kann sie für Jene werden, die hier wohnen, die nicht mehr durch einen Beruf oder andere Aufgaben auf Trab gehalten werden, sondern über vier Wochen lang die sonnenfreie Zeit ertragen müssen. Die Zeit mit der höchsten Suizidrate.
    Wir fahren los, bleiben vorerst auf Sicht und halten die Kommunikation über das Handy aufrecht. Das Fahren läuft prima, der Tacho pendelt zwischen 80 und 100 km/h: fest gefahrene Schneedecke, darunter wieder Eis, welches wegen der mangelnden Urlaubssonne nicht auftauen kann. Im Radio erklingen Joiks, die traditionellen Gesänge der Samen, während wir Kilometer um Kilometer auf das heutige Ziel zurollen, wobei die endlos scheinenden Schneefelder zwischendurch von Kieferwäldern unterbrochen werden.
„Vorsicht“ schreit meine Frau, die den dunklen Schatten auf der Straße, direkt nach der Kurve, zuerst gesehen hat. Er rührt sich nicht, steht mitten auf der Fahrbahn, rechts und links die Schneewälle, die der Schneepflug gebildet hat.
     Kein Rucken, kein Zucken geht durch den Körper des vor uns stehenden Elches. 600 KG Lebendgewicht, über 2 Meter hoch ragt das Ungetüm vor uns auf, kommt näher, mit jeder Sekunde – oder sind wir es, die näher kommen? Im letzten Moment reiße ich das Lenkrad nach links, dann sofort wieder nach rechts am Schneewall vorbei, den Kopf des Elches zum Greifen nahe. Und dann der dumpfe Schlag. Blut überall. Das war mein erster Gedanke. Nichts. Kein Blut, heile Windschutzscheibe – nur der dumpfe Knall. Das Auto steht. Wir steigen aus, schauen zurück, der Elch steht noch an seinem Platz, als wäre er am äsen. Der rechte Außenspiegel ist defekt, hängt an drei dünnen Kabeln.
Ich rufe bei der Polizei an.
    „Du musst eine Plastiktüte dort aufhängen, wo der Elch ist. Wir schicken einen Förster raus“ meint der Polizist an anderes Ende der Leitung. Während ich telefoniere setzt sich der Elch langsam in Bewegung, trottet über den Schneewall in den Wald und lässt uns allein. Wir gehen dorthin, wo wir ihn gesehen haben, suchen nach Blutspuren, können keine entdecken, nur die ausweichenden Auto- und die Elchspuren, die sich mit dem Schnee vermählt haben.

Was für eine Reise – erst das eiskalte Warten auf das Nordlicht, eben der Unfall mit dem König der Wälder und jetzt wieder auf der schneebedeckten Straße, weiter gen Norden – was wird noch kommen auf unserer Reise nördlich des Polarkreises, nördlich von 66° Nord 33′ 55″?

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Der Rentier Filmstar aus Sami blood © B. Specht

Porträt des Autors:

Seit 1984 ist er mit dem Norden, mit Skandinavien, eng verbunden. Begonnen mit Reisen für mobilitätseingeschränkte Personen, danach in Deutschland als Marketingleiter der größten schwedischen Fährreederei unterwegs, Geschäftsführer bei einem führenden Skandinavien Reiseveranstalter und die letzten zwanzig Jahre hat er mit seiner Frau einen Reiseveranstalter für Reisen nach Skandinavien betrieben: mit exklusiven Reisen und Pionierarbeit für das winterliche Lappland. Von Icehotel bis Polarlicht, mit Eisbrecherfahrten und Hunde- und Motorschlittentouren. Der erste Skandinavienveranstalter, der ausschließlich die Reisen über das Internet angeboten hat.

Die Liebe gehört dem Norden und ganz besonders dem winterlichen Lappland und dem sommerlichen Värmland.

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