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Der Alte unterm Dach

Die arbeitsmüde Stadt duckt sich vor dem nächtlichen Wintersturm. Eine Tür schlägt auf und warmes Licht ergießt sich auf den Schnee. Musikfetzen erreichen die winzige Dachwohnung. Die Wanduhr tickt in den Raum. Der Mann am Küchentisch nimmt den Stift in die Hand:

 »Ich schreibe dir, Erik, um endlich Frieden zu finden. Vielleicht möchtest Du das auch. Ich hoffe, es geht dir gut.«

 Der Mann hebt den Kopf und beobachtet die Schneeflocken, die ihr kurzes Leben an der Fensterscheibe vor ihm aushauchen. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen. Der Geruch der Kneipe unten am Stadthafen steigt noch einmal in seine Nase, die Musik dringt wieder an sein Ohr und die Frau schmiegt sich an ihn – an jenem Abend auf jener Tanzfläche:

 

 Aus den Lautsprechern rollen die Riffs von Layla in den Raum. Zigarettenrauch taucht die Menschen in ein unwirkliches Licht. Ab und zu färbt die Lichtorgel ihre Gesichter, holt sie für Sekunden aus dem Schatten.

 Ich lehne an einem Pfeiler, nippe an meinem Bier und schaue auf die Tanzenden.

 »Leo, du hier? Solltest du nicht längst im Bett sein?«

 Mein älterer Bruder Erik schlägt mir auf die Schulter. Er trägt seine neue Jeansjacke. Dann nickt er zu der Frau, die ihn begleitet.

 »Hey, und das ist Jane, eine Freundin von mir. Kennt ihr euch?«

 »Nee«, sage ich, »hallo.«

 Aber sie schaut an mir vorbei zur Tanzfläche.

 Die Stimme von Robert Plant schwingt sich über die brodelnden Gespräche.

 »... and she’s buying a stairway to heaven.«

 Jane bläst die Haare ihres Ponys nach oben.

 »Hast du Lust zu tanzen, Leo?«

 Mein Bruder bleibt verdutzt am Pfeiler zurück. Er schüttelt den Kopf und wendet sich seinen Kumpels an der Theke zu.

 »Einarmiges Reißen, Jungs?«

 

Das Licht der späten Sommersonne schmeichelt dem jungen Garten. Dort, wo sich einst Kohlehalden türmten, verteilen sich die Gäste an den Stehtischen. Diskomusik untermalt die Gespräche über Autos, Eigentum und Kinder. Ich schaue von der Terrasse auf das angeregte Treiben. Hinter mir schlägt die Uhr die siebte Stunde.

 »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Haus.«

 Ein älterer Mann spricht mich an. Aber ich suche nach Jane.

 »Ja, danke, danke. – Sagen Sie, haben Sie zufällig meine Frau gesehen?«

 Ohne eine Antwort abzuwarten, laufe ich zurück in den Garten.

 Leider ist mein Bruder Erik nicht gekommen, ich hätte ihm gern unser Haus gezeigt. Aber wo steckt Jane? Nirgendwo zu entdecken.

 Da schlängelt sich unten im Garten eine blaue Jeansjacke durch Jacketts und Kostüme und verschwindet hinter einem Schuppen.

 Das war doch Erik. Was macht der da am Gerätehaus?

 Aber der Herr Bürgermeister spricht mich an. Und das ist in diesem Moment wichtiger. Endlich, nach langen Minuten des Smalltalks, laufe ich zum Geräteschuppen.

 »Leo!«

 Jane löst sich aus Eriks Armen.

 »Ich habe deine Frau nur unterhalten, mein Kleiner. Du warst ja nicht da und sie hat gefroren. Da sollte ein großer Bruder familiäre Hilfe leisten, oder?«

 Mit diesen Worten schnappt er seine blaue Jeansjacke, wirft sie über die Schulter und verlässt die Feier.
 

Die Bäume und Sträucher im Garten schützen schon vor den Blicken der Nachbarn. Draußen heult ein herbstlicher Wind. Dämmerlicht füllt das Wohnzimmer. Die Wanduhr zählt die späten Sekunden.

 »Noch etwas Sekt, Jane?«

 »Ja, Leo – meinetwegen.«

 Sie nippt kurz an dem Glas, dann knallt sie es auf den Couchtisch.

 »Wir müssen reden Leo, ich halte das nicht länger aus! Wir leben aneinander vorbei, du siehst nur deine Firma. Aber ich möchte nicht das Aushängeschild eines erfolgreichen Unternehmers sein. Verstehst du das?«

 Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Ohne zu antworten, hole ich mir ein weiteres Glas Whisky aus der Bar.

 Da zerreißt der Gong der Haustür die lastende Stille zwischen uns. Ich eile zum Bildschirm des Türöffners und begegne Eriks Blick.

 »Okay, komm hoch.«

 Da steht er vor mir, mein großer Bruder, die blaue Jeansjacke an der Schulter zerrissen.

 »Leo, ich bin am Ende, ich muss ’raus aus dieser Stadt, ’raus, um endlich mit mir klarzukommen. Bitte leihe mir Geld und bringe mich zum Hauptbahnhof.«

 Eine halbe Stunde später fährt Jane meinen Bruder zum Zug. Ich drücke die Tür hinter den beiden ins Schloss, bereue den Alkohol, der in meinen Adern kreist. Gern hätte ich diesen Job selbst erledigt.

 Ich schaue hinaus in den welkenden Garten.

 Einige Stunden später wache ich auf dem Sofa auf. Es ist Nacht, der Regen platscht auf die Terrasse.

 Jane ist noch nicht zurück.

 Erst am Mittag des neuen Tages erlöst mich ihr Auto, das langsam in die Einfahrt zur Garage fährt.

 »Leo, ich werde dich verlassen.«

 Dieser Satz, ausgesprochen nach bitteren Stunden am Küchentisch, steht jetzt wie eine Wand zwischen uns.

 Sie werde gehen, obwohl sie ein Kind von mir erwarte, ein Geständnis, das mich tief trifft. Die gemeinsame Nacht mit Erik habe ihr die Gewissheit gegeben, den Schritt in die Freiheit zu wagen. Nein, sie werde nicht mit meinem Bruder zusammenleben, sie wolle allein etwas Neues aufbauen, von vorne beginnen. Solange sie das noch könne.

 

Meine Schmerzen sind müde. Seit sechs Monaten lebe ich allein in dem großen Haus und pflege den Garten.

 »Herr Burmann? Sind Sie Herr Burmann?«

 Die Stimme holt mich aus der gebückten Haltung. Ein Blick auf die Blumen vor mir, dann drehe ich mich um.

 »Ja, der bin ich. Was gibt es?«

 Der Postbote winkt am Zaun mit einem Brief.

 »Ich habe hier ein Einschreiben für Sie. – Mit Rückschein.«

 Ich quittiere den Empfang, Finanzamt Essen-Süd droht vom Briefumschlag.

 »Ach ja, hier habe ich noch einmal Post für Sie«, sagt der Bote, »hätte ich bald vergessen.«

 Ich halte einen wattierten Umschlag in der Hand.

 Nanu, kein Absender?

 Ich reiße das Kuvert auf. Ein Amulett und ein handbeschriebenes Blatt Papier fallen auf den Küchentisch.

 »Lieber Leo, ich habe mich entschlossen, schon vor der Entbindung das Ruhrgebiet zu verlassen und nach Neuseeland zu fliegen. Und ja, Leo, das ist meine neue Leiter zum Himmel. Es tut mir leid, aber es gibt keinen anderen Weg für uns beide. Das Amulett enthält eine Locke von mir. Lebe wohl. Deine ehemalige Jane.«

 Ich greife nach einem Küchenstuhl. Das Schreiben vom Finanzamt öffne ich nicht, ich ahne schon, was drinsteht.

 Einen Monat später klingelt die Steuerfahndung an meiner Haustür.

 

Oben unterm Dach nimmt der Alte wieder den Stift in die Hand. Der Sturm rüttelt an den schwarzen Fensterrahmen, die Kälte kriecht von dort unter den Tisch und greift nach seinen Beinen.

 »In jener Nacht, wo du mit dir klarkommen wolltest, Erik, hast du mein Leben zerstört. Aber nach all den Jahren ist das nicht mehr wichtig für mich. Ja, ich kann und will dir ver....«

 Der Stift rollt langsam über den Tisch und fällt auf den Boden. Die Uhr an der Wand tickt noch einmal, dann bleibt der Zeiger stehen.  

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Porträt des Autors:

Klaus Dimar, geboren in Essen, lebt heute in Potsdam. Ein Sohn, drei Töchter. Abitur am Bischöflichen Abendgymnasium in Essen. Zwölf Jahre Selbständigkeit, zehn Jahre Arbeit mit psychisch beeinträchtigten Menschen, zuletzt Angestellter im Archiv. Zurzeit schreibt er an einem Kurzgeschichtenband und einer Novelle. Wenn nicht am Schreibtisch, unternimmt er Wanderungen an den nahen See oder Fahrradtouren ins Havelland, immer die Kameras zur Hand.

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