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Die anderen Jahreszeiten
Die Wiesen erscheinen im satten Grün, die Rapsfelder drücken schüchtern die jungen gelben Pflänzchen ans Licht, lassen die großen Flächen mit zarten Tupfern über dem Winterkleid zu neuem Leben erwachen. Schwalben auf der Suche nach dem Nest vom letzten Jahr, bereit zu Frühjahrsputz und Ausbesserung, was die Winterstürme gefressen haben.
Die See scheint das nicht zu stören, sie hat ihren eigenen Rhythmus. Den Tang am Strand, weit über den alten Spülsaum hinaus abgelagert, der im Winter bei den Stürmen immer häppchenweise zurückgeholt wird, weil er nicht entsorgt werden darf. Nicht im Winter, Bestimmung der Landesregierung. Selbst Weihnachten und Silvester nicht, wenn die Gäste sich im Ostseebad, in Boltenhagen, aufhalten. Egal, ob Knaller und Raketenreste sich darin ablegen und dann ins Meer gezogen werden.
Bestimmungen eben. Von Landratten, von Menschen in den Zimmern mit Pflanzen auf der Fensterbank und einem geregelten Tagesauflauf von 9 bis 17 Uhr, Verwalter aus dem Binnenland.
Die einheimischen Nummernschilder mit NWM, GVM oder WIS im satten Schwarz auf weißen Grund gedruckt, maximal drei Zahlen nach den Buchstaben, weil der Raum sonst zu eng ist, vermischen sich mit Kennzeichen aus dem gesamten Bundesgebiet. Sie werden überlagert, gehören langsam der Minderheit an, die überrollt wird von den Sehnsuchtsvollen.
„In Boltenhagen kann man nur im Winter mit dem Auto fahren, sonst gibt es keinen Platz“, hatte die Sachbearbeiterin bei der Straßenverkehrsbehörde gesagt, als er sein Auto ummeldete. Weg von den zwei Buchstaben aus dem Schleswig-Holsteiner Randort Hamburgs.
Da sind die Vorboten der anderen Jahreszeit, die frisch gewaschenen Wagen, vollgepackt mit Urlaubsdingen, die man braucht, wenn man an die Küste fährt – Strandmuschel, Luftmatratze, aufblasbare Gummitiere in der Hochsaison. Für den Transport zum Strand stehen die Bollerwagen in der Fewo.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Dann ist es eben so.
An der Theke in der Bäckerei bilden sich jetzt Schlangen, die jeden Tag größer werden, länger bis zur Tür hinaus. Die Bekleidung nimmt ab, sobald die Temperaturen zunehmen. Topps statt Wetterjacke, Hotpants statt Thermohose, farbige Muskelshirts auf weißer Haut. Die muss noch braun werden in den nächsten Tagen oder Wochen. Unter den Armen mehr Haare als auf dem Kopf, frischer Schweiß verbindet sich mit gestrigem.
Manche haben kunstvolle Tattoos auf dem Körper, das wird sehr schmerzhaft, wenn aus Susi Nicole wird. Ein paar Sitzungen, danach ist die Ex weggelasert und am Portomanie wurde auch ganz schön geknabbert. Aber du dritt in den Urlaub fahren? Wohl eher nicht.
„Drei Backstubenbrötchen“ ordert er bei der Verkäuferin. Er ist jetzt dran. „Backstubenbrötchen“, das ist ein Insider, keiner, der sich schwertut, die Wahl zwischen Weltmeister-, Mohn- und Körnerbrötchen zu treffen, Dinkelecken oder Laugenstangen. Einer mit klarer Ansage, einer von hier, ein Mecklenburger.
Der See ist es egal, wann sich die Körper hineinwerfen. Sie ist da, jederzeit bereit sie aufzufangen, mitzunehmen für ein paar Meter. Wenn sie schlecht gelaunt ist, dann zieht sie die Menschen auch etwas länger mit sich, macht sich einen Spaß daraus, lässt sie in der Strömung paddeln, bis diese aufhört oder sich die Schwimmer seitlich freigeschwommen haben.
Dafür gibt es auch die Bojen, die das Revier abgrenzen. Nur zur Vorsicht. Die haben ihren Zweck. Aber sie ist fast immer gut gelaunt, die See. Lässt es sich gefallen, wenn die Menschen in ihr treiben, stört sich nicht daran, wenn einige hineinpinkeln, hat ja genug Wasser zum Verdünnen.
Die Hiesigen sind immer die Ersten, die sich in die Wellen schmeißen. Morgens, wenn die Gäste noch schlafen, kommen sie an den Strand. Können in Ruhe schwimmen und machen ihn frei für die Bollerwagen, Sonnenzelte und Strandkorbgäste, die gegen halb neun erste Spuren durch den frisch geharkten Sand ziehen. Auf der Suche nach dem Platz für heute. Bis zum Mittag, dann ein Päuschen und wieder zurück an den Strand.
Urlaub, das haben sie sich verdient. Hier ist Mecklenburg, nicht Spanien. Niemand muss mit dem Handtuch seinen Liegestuhl markieren. Ein freier Strand mit reichlich Platz für jeden.
Kürzlich hat jemand seine Sachen dort liegen lassen, ist zur Mittagspause in seine Fewo gegangen und erst nach Stunden zurückgekehrt. Ringsherum hatte man sich Sorgen gemacht, weil man den Eigentümer der Badesachen lange nicht gesehen hatte, hat die Suche ausgelöst, bis der Gast - leise pfeifend, froh gelaunt - an den Strand zurückkam. Das geht nicht. Auf gar keinen Fall. Jeder muss mitdenken, nicht die Sachen liegen lassen – auch wenn das Plätzchen später weg ist.
Hier ist Mecklenburg, nicht Spanien.
FKK an Zugang 12, Hundestrand bei der 1 und der 21, dazwischen Textilstrand ohne Vierbeiner, alles gut geregelt, eine nachvollziehbare Lösung. Die Tüten für die Handschmeichler der Hundebesitzer gibt es an vielen Stellen. Gratis. Schließlich sind Fellnasen demnächst auch Kurtaxzahler.
Wenn der Strand voll ist, sind die Geschäfte leer, dann nutzen die Einheimischen die Möglichkeit, einkaufen zu gehen. Im Winter sind sie immer leer genug für die Einwohner, in den anderen Jahreszeiten muss man sich den Slot suchen, wann man am besten einkaufen kann, der Bäcker noch Brötchen hat. Das lernt man schnell. Das Gleichgewicht wird so auch im Supermarkt wieder hergestellt.
Ebenso wie in den Restaurants. Hier lassen sie den Urlaubern den Vorrang. In den anderen Jahreszeiten meiden die Einheimischen die Restaurants, wollen keine Plätze blockieren, wollen den Gästen zeigen, dass sie willkommen sind und jeden Stuhl für sich nutzen können.
Sie brauchen sich gegenseitig. Die Urlauber und die Boltenhagener, damit sie im Winter alles am Laufen halten können, wenn sich kaum ein Gast hierher wagt. Die Einheimischen brauchen die Touristen, die zwischendurch die Euros an die Küste spülen, damit Boltenhagen auch im Winter offene Geschäfte und eine funktionierende Infrastruktur bieten kann.
So ist das. Frühjahr, Herbst und Winter spielen nur eine Nebenrolle zwischen den beiden Schwergewichten Hochsaison und Jahreswechsel an der See. Und die laufen auch anders ab. Die anderen Jahreszeiten.
Die Hochsaison ist wie die See bei auflaufendem Wasser. Es wird langsam mehr, man kann es sehen, kann sich darauf einstellen, sich einpendeln, in den Rhythmus des Jahres, mitschwimmen, dabei sein.
Die Autos kommen zuerst, rollen kolonnenweise von der Autobahn über das Hinterland ins Ostseebad, stehen mit heißen Motoren vor den Fewos, werden von der Last befreit. Die Wohnung inspizieren, einrichten, ankommen, schnell noch zum Supermarkt, dann an die See.
Spaziergänger an der Steilküste, am Strand fröhliche Kinderstimmen mit Kuchenformen und Schaufeln. Hektische Beredsamkeit zwischen Sandkuchen und Sandburgen, Kanäle bauen vom Ufer in den Sand, wo das Wasser versickert. Restaurants, die früh schließen. Mit dem Pizzakarton unterm Arm zur Wohnung auf Zeit.
Volle Geschäfte und keine Brötchen mehr um neun.
Um Weihnachten ist es anders. Wie bei einer Sturmflut. Erst die trügerische Ruhe, Stille, vereinzelt die Knaller der Unverbesserlichen, dann die Sturmflut. Silvester, Jahreswechsel, Autos im Pulk, Familien wohnen in Mehrgenerationswohnungen. Freunde, Schnaps und laute Stimmung. Wintermarkt mit Sanddornpunsch, der die Finger wärmt. Zum Jahreswechsel Raclette, Thermohose und die Winterstiefel.
Der große Knall. Das Feuerwerk. Die Ruhe danach.
Alles verstummt nach ein paar Tagen wieder, als hätte sich die See nach der Sturmflut zurückgezogen und die Gäste mitgenommen.
Boltenhagener unter sich. Durchatmen, der Sommer kommt bestimmt.
So ist das mit den anderen Jahreszeiten im Ostseebad.
In Boltenhagen.
Was war und was wird kommen - Kommunalwahl 2024
Auf der einen Seite der neugewählte Bürgermeister, flankiert von einer Garnison Gummibärchen, rechts von ihm mit heruntergeklappten Visieren, die Altpolitiker in Blickkontakt mit den lauernden Parteimitgliedern der anderen Fraktionen auf der gegenüberliegenden Seite. Dederon-Hemden würden Funken sprühen in dieser angespannten Atmosphäre.
Das war schon während des Wahlkampfs nicht einfach. Zerstochene Reifen am Auto des jugendlich anmutenden Herausforderers waren eines der undemokratischen Mittel, die eingesetzt wurden, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Dabei ist es doch sehr beschaulich. Hier, in einem der ältesten Ostseebäder Deutschlands.
Ist es das wirklich? Auch im politischen Bereich? Wohl nicht immer. Boltenhagen war stets in den Schlagzeilen, wenn es um politische Ereignisse kommunaler Institutionen in Mecklenburg ging. Wenn das mediale Interesse an negativen Schlagzeilen bedient werden sollte. Zudem noch die Abgabe der eigenständigen Verwaltung und Einbindung in den Klützer Winkel. Das war das Husarenstück.
Man kann vieles über das politische Boltenhagen sagen oder auch wegschweigen, aber langweilig ist es nie. Auch nicht an diesem Abend, wo die erste Sitzung mit den neuen Gemeindevertretern ansteht. Wo Verlierer mit abgeklärter Mine auf Ihren angestammten Plätzen sitzen, dort wo die meisten schon früher saßen. Neue Gesichter sind die Ausnahme. Kein Interesse bei den Jüngeren, kein Zugang in die Heiligen Hallen oder einfach weggebissen? Die Gedanken sind frei ….
Und heute, fast fünf Jahre später, auf der letzten Versammlung der Gemeindevertretung, wundert man sich als stimmloser Zuschauer, wie ruhig es geworden ist. Die Visiere hochgeklappt, die Gummibärchen-Divisionen schon seit Jahren verbannt und die Wortmeldungen respektvoll vorgetragen, wird konstruktiv gearbeitet. Zum Wohl der Einwohner von Boltenhagen, Redewisch, Tarnewitz und Wichmannsdorf. So sollte es sein, so scheint es jetzt, so war es nicht am Anfang.
Doch so richtig glücklich wirken die alten Haudegen immer noch nicht. Nur eine Partei bedankte sich für die zurückliegende Zusammenarbeit bei den anderen Fraktionen und dem Bürgermeister.
Was solls. Gute Verlierer sind selten.
Als er sich vor fünf Jahren zur Wahl des Bürgermeisters gestellt hatte, der junge Mann aus dem Osten im Westen, aus Ostwestfalen, haben nur wenige an ihn geglaubt. Die Ernüchterung kam nach der Stichwahl.
Dabei hat er einen sehr simplen, ehrlichen Wahlkampf geführt. Hat nur mit den Menschen im Ort gesprochen, ist auf sie zugegangen und hat Ihnen überzeugend erklärt, was sein Ziel ist.
Das Merkwürdige dabei? Er hat auch später als Bürgermeister das getan, was er im Wahlkampf gemacht hat: Mit den Menschen gesprochen, sich ihre Sorgen angehört und geholfen, dort, wo es möglich war. So simpel, so erfolgreich.
Nach der Wahl ist vor der Wahl.
Jetzt ist es wieder so weit. Im Land wird gewählt, in Boltenhagen gleich viermal. Eine Herausforderung für alle – für Wähler und zu Wählende. Im Ostseebad wird sich die Gemeindevertretung stärker durchmischen als in den Vorjahren. Das ist gut. Das ist nötig. Einige der langjährigen Vertreter lassen sich nicht wieder aufstellen. Einer davon wird sicherlich ein großes Loch hinterlassen, seine pedantische Art, die offensive Arbeit und die klar formulierten Worte werden fehlen. Auch die, die sich neu in dieser Legislaturperiode eingebracht haben und jetzt wieder rausgehen wollen, haben ihren Beitrag geleistet, haben neue Impulse gegeben und sich eingesetzt. Andere wird man weniger vermissen – die Farblosen und die Querulanten.
Allen Gemeindevertretern, egal welcher Fraktion zugehörig, sollten die Bürger danken für ihr Engagement. Dafür, dass sie sich durch mehrere Tausend Seiten Vorlagen in den letzten fünf Jahren gewühlt, oft das Privatleben der ehrenamtlichen Tätigkeit untergeordnet und vermutlich nur einen warmen Händedruck bekommen haben. Dass sie vielleicht auch angefeindet oder missverstanden wurden – auch das haben sie auf sich genommen. Nur weil es diese engagierten Menschen in unserem Ostseebad gibt, nur deshalb bewegt sich hier auch etwas. Zum Wohl der Bevölkerung und der Urlauber.
Noch glimmt sie, die Lunte, die in 2010 im Ostseebad gezündet wurde, die niemand in der Gemeindevertretung in den Folgejahren löschen konnte oder wollte. Dann der vage Versuch des Handelns. Beschlussfassung im Winter 2019. Der Zeitzünder wurde neu justiert. Jetzt warten wir, ob am 31.12.2024 der Knall dieser Ladung das Feuerwerk der Kurverwaltung in den Schatten stellen oder leise zischend erlöschen wird.
Diesmal sind sehr viele neue Gesichter auf den Plakaten zu entdecken, sechs Parteien oder Gruppierungen stellen sich zur Wahl. Interessant, wenn man den Altersdurchschnitt der einzelnen Fraktionen betrachtet.
Die Erfahrenen stehen denen gegenüber, die ebenso das Beste für Boltenhagen wollen, obwohl diesen das politische Geplänkel noch fremd ist. Das wird spannend. Wobei die Wähler auf kommunaler Ebene mehr Mitspracherecht haben als bei der Wahl zum großen Haus an der Spree. Das Risiko, die Bundespolitik bis auf die kommunale Ebene herunter zu brechen, ist groß - und falsch.
Auch in Berlin sitzen einige Abgeordnete, die der Staat durchfüttert. Denen es an Fachkompetenz fehlt. Die kann man erlernen oder absitzen - letzteres ist auf kommunaler Ebene schwierig.
Wichtig ist, dass wir die Möglichkeit zu wählen auch wahrnehmen, unerheblich, welche Fraktion uns am nächsten steht.
Wir können uns glücklich schätzen, in einem Land zu leben, wo wir das Recht haben, frei zu wählen, nicht fremdbestimmt oder mit der Pistole im Nacken.
Burckhard Specht, 18.05.2024
66° Nord 33' 55''
„Wie lange noch?“ ruft Rolf herüber, „langsam wird es ungemütlich“.
„Lass uns noch etwas warten, wir müssen Geduld haben“ antworte ich ihm.
Die Kälte zieht, trotz vier T-Shirts und dicker Outdoorhosen, langsam an den Beinen hoch, dazu die schwere Dunkelheit, nur schwach gemildert durch die Sterne am wolkenfreien Himmel, die leicht im Schnee reflektieren. Herrlich weißer Schnee, kniehoch, frisch von gestern. Aber nichts passiert. Nichts. Unsere Freunde warten ein paar Meter weiter, flüsternd, sanft bibbernd. Hoffen auf das Ereignis.
„Diese verdammte Kälte heute Nacht, warum haben wir das gemacht?“ frage ich meine Frau.
Da, langsam, fast ängstlich, bildet sich ein helles Licht am Himmel und formiert sich zu einem leichten Lichtschleier, zieht uns in den Bann. Ich nehme die Kamera zur Hand, montiere sie auf das Stativ und prüfe dabei unentwegt die Veränderungen über uns. Es wird heller. Weißlich, mit einem zarten Grün und einem Hauch Rot formiert sich das Nordlicht, fängt an zu wabern, setzt sich leicht in Bewegung, baut sich auf, hat den Himmel in dieser mondleeren Nacht für sich allein. Wir genießen das Schauspiel, ziehen die Blende an der Kamera auf, halten für einen Moment den Atem an, aus Angst wir könnten das Polarlicht verjagen. Es wird größer, breiter – Bild um Bild presse ich auf den Chip und erfreue mich an dem nächtlichen Schauspiel, vergessen ist die Kälte an den Beinen, vergessen das lange Warten, es zählt das Hier und Jetzt. Jetzt verstehen wir, weshalb die Samen früher davon sprachen, dass die Seelen der Vorfahren als Fuchs am Himmel entlangrennen. Das Rot wird stärker, überschlägt sich, breitet sich aus, wird breiiger und zugleich leuchtet der Kopf des Fuchses, während sich im Schweif die Farben langsam verlieren. Das Licht bildet sich allmählich zurück, die Farben werden milchiger, der himmlische Vorhang löst sich auf, verschwindet ebenso sanft wie er gekommen ist - die Dunkelheit breitet sich wieder aus, als wäre nichts geschehen. Jetzt spüren wir sie wieder, die eiskalte Luft, die an den Beinen emporklettert, ich nehme die Kamera, wir packen alles zusammen und gehen zurück ins Ferienhaus.
Der Kaminofen ist noch an, blubbert vor sich hin, die Wärme heißt uns willkommen, empfängt uns mit einer Herzlichkeit, die gut tut. Saugut.
„Lass uns die Fotos anschauen“ meint Rolf. Die Neugierde wollen wir sofort befriedigen und schauen sie uns auf dem Monitor an. Was ist das? Geballtes Licht macht sich breit, das Polarlicht sieht noch gewaltiger aus als in der Natur, kräftige Farben, insbesondere das Grün sticht hervor, und der breite Vorhang, der sich wegen der langen Belichtungszeit gebildet hat, lässt das himmlische Spektakel noch imposanter, fast unwirklich, erscheinen. Überglücklich nehmen wir mit einem gut temperierten Rotwein am Kaminofen Platz und freuen uns über den heutigen Abend. „Morgen, sage ich in die Runde, wo die kalten Füße Richtung Feuer zeigen, wird es nicht ganz so kalt wie heute“.
Der Morgen erwacht, der Blick auf das Thermometer empfiehlt gute Kleidung, denn minus 25° sind auch bei trockener Kälte spürbar, wenngleich wir uns gut davor schützen können. Nach dem Frühstück packen wir die Autos, prüfen die Wohnung ob wir nichts vergessen haben und sind startklar. Mit Rolf schaue ich mir noch einmal die Route an „Wollen wir uns in Kiruna treffen oder in Gällivare noch einen Kaffee nehmen“ fragt Rolf und wir stimmen für den Kaffee. „Gut, dann lass uns getrennt fahren, telefonisch sind wir in Lappland immer gut erreichbar.“ höre ich mich sagen. Das Auto ist vorgewärmt, die dicken Jacken ausziehen, damit der Puffer des Sicherheitsgurtes bei einem möglichen Unfall nicht den Schutz verliert. Langsam rollt das Auto vor, der Schnee knirscht unter den breiten Reifen, die Spikes graben sich fast unmerklich in die Eisdecke ein, geben halt. Optisch bestehen die Straßen nur aus Eis und Schnee. Manches Mal wird warmer Split, der sich sofort in das Eis einfrisst, gestreut. Heute jedoch nicht.
Die leichte Dämmerung begleitet uns seit dem Vormittag, zwischen Mitte Dezember und Mitte Januar ist nördlich des Polarkreises, wo wir uns befinden, keine Sonne zu sehen. Eine mystische Stimmung, die mich immer wieder in den Bann zieht, beeindruckend für einen Urlaub, deprimierend kann sie für Jene werden, die hier wohnen, die nicht mehr durch einen Beruf oder andere Aufgaben auf Trab gehalten werden, sondern über vier Wochen lang die sonnenfreie Zeit ertragen müssen. Die Zeit mit der höchsten Suizidrate.
Wir fahren los, bleiben vorerst auf Sicht und halten die Kommunikation über das Handy aufrecht. Das Fahren läuft prima, der Tacho pendelt zwischen 80 und 100 km/h: fest gefahrene Schneedecke, darunter wieder Eis, welches wegen der mangelnden Urlaubssonne nicht auftauen kann. Im Radio erklingen Joiks, die traditionellen Gesänge der Samen, während wir Kilometer um Kilometer auf das heutige Ziel zurollen, wobei die endlos scheinenden Schneefelder zwischendurch von Kieferwäldern unterbrochen werden.
„Vorsicht“ schreit meine Frau, die den dunklen Schatten auf der Straße, direkt nach der Kurve, zuerst gesehen hat. Er rührt sich nicht, steht mitten auf der Fahrbahn, rechts und links die Schneewälle, die der Schneepflug gebildet hat.
Kein Rucken, kein Zucken geht durch den Körper des vor uns stehenden Elches. 600 KG Lebendgewicht, über 2 Meter hoch ragt das Ungetüm vor uns auf, kommt näher, mit jeder Sekunde – oder sind wir es, die näher kommen? Im letzten Moment reiße ich das Lenkrad nach links, dann sofort wieder nach rechts am Schneewall vorbei, den Kopf des Elches zum Greifen nahe. Und dann der dumpfe Schlag. Blut überall. Das war mein erster Gedanke. Nichts. Kein Blut, heile Windschutzscheibe – nur der dumpfe Knall. Das Auto steht. Wir steigen aus, schauen zurück, der Elch steht noch an seinem Platz, als wäre er am äsen. Der rechte Außenspiegel ist defekt, hängt an drei dünnen Kabeln.
Ich rufe bei der Polizei an.
„Du musst eine Plastiktüte dort aufhängen, wo der Elch ist. Wir schicken einen Förster raus“ meint der Polizist an anderes Ende der Leitung. Während ich telefoniere setzt sich der Elch langsam in Bewegung, trottet über den Schneewall in den Wald und lässt uns allein. Wir gehen dorthin, wo wir ihn gesehen haben, suchen nach Blutspuren, können keine entdecken, nur die ausweichenden Auto- und die Elchspuren, die sich mit dem Schnee vermählt haben.
Was für eine Reise – erst das eiskalte Warten auf das Nordlicht, eben der Unfall mit dem König der Wälder und jetzt wieder auf der schneebedeckten Straße, weiter gen Norden – was wird noch kommen auf unserer Reise nördlich des Polarkreises, nördlich von 66° Nord 33′ 55″?
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Porträt des Autors:
Seit 1984 ist er mit dem Norden, mit Skandinavien, eng verbunden. Begonnen mit Reisen für mobilitätseingeschränkte Personen, danach in Deutschland als Marketingleiter der größten schwedischen Fährreederei unterwegs, Geschäftsführer bei einem führenden Skandinavien Reiseveranstalter und die letzten zwanzig Jahre hat er mit seiner Frau einen Reiseveranstalter für Reisen nach Skandinavien betrieben: mit exklusiven Reisen und Pionierarbeit für das winterliche Lappland. Von Icehotel bis Polarlicht, mit Eisbrecherfahrten und Hunde- und Motorschlittentouren. Der erste Skandinavienveranstalter, der ausschließlich die Reisen über das Internet angeboten hat.
Die Liebe gehört dem Norden und ganz besonders dem winterlichen Lappland und dem sommerlichen Värmland.