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Das Beste ist gerade gut genug

Ich bin außergewöhnlich schön. Die kirschrote Farbe steht mir wahnsinnig gut. Und groß bin ich! In keinem Gesicht werde ich zu übersehen sein. Bin ich eitel? Ist mir egal. Die Schiebetür am Eingang geht auf, ein glatzköpfiger Mann mit einem Pfannkuchengesicht tritt mit schwerfälligen Schritten ein. Um Gottes willen, der soll bitte weiterschlurfen, ist er kurz- oder weitsichtig? Nach den dicken Gläsern zu urteilen stark kurzsichtig. Die Verkäuferin, die mich heute zum ersten Mal in die Vitrine in der Mitte des Optikerladens platziert hat, fragt ihn: „Was kann ich für Sie tun?“ „Ich brauche eine neue Brille“, antwortet er. Na was denn sonst meine Güte, du bist doch beim Optiker. Der Dicke brummt weiter, ich kann ihn nicht verstehen. Er wird, wie ich finde, übertrieben höflich nach hinten zum Sehtest geführt. Mit den Ergebnissen auf einem Zettel kehrt die Optikerin zurück zu den Brillenwänden. Sein kurzsichtiger Blick streift meine Vitrine und er zuckt zusammen, als er mich sieht. Beruhige dich, mit dir werde ich den Laden nicht verlassen, für keine Dioptrie der Welt. Er wird gebeten, Platz zu nehmen. Der bedauernswerte Stuhl verschwindet unter seinem Hinterteil in der Schlabberviermannzelthose. Und die freundliche Frau bringt ihm eine Auswahl von Leidensgenossinnen. Herzliches Beileid. Meine Brillenkollegen klappern mich an. Was? Er hat sicher ein gutes Herz? Warum schaut mich das „gute Herz“ so entsetzt an? Bin ich die Pest?

Die Schiebetür macht den Eingang frei und zwei Erstklässler stürmen rein. Dahinter erscheint die dazugehörige Person. Die Mutter kann es nicht sein. Eine Großmutter? Paul und Emilie brauchen Sonnenbrillen. Wenn möglich gelb und blau. Irgendwelche Helden aus einem Disney Film sind vermutlich der Grund. Eine zweite Verkäuferin nimmt sich der Kinder an. Sie finden schnell zwei passende Exemplare, die Großmutter bezahlt, schaut mich kurz an und der Wirbelsturm verzieht sich nach draußen. Der „gutherzige“ Beleibte hat sich für eine schwarzbraune Kollegin entschieden. Die schmalen Bügel verlieren sich in seinen fettgepolsterten Schläfenfalten. Ich schaue es mir nicht an. Die Arme.

Der da muss ein Student sein. Seine stechenden Augen durchforsten den Laden. Mit fahrigen Armbewegungen, die mit den ausholenden Schritten nicht harmonieren, marschiert er von einem Regal zum anderen und probiert sich durch, ohne jemanden zu fragen. Unverschämt. Zum Glück bin ich abgeschlossen.

Eine aufgetakelte Lady schwebt von einer Auslage zur nächsten. Kommt sie vom Friseur? Sie will mich probieren. Die Optikerin mit dem hellblauen flauschigen Pullover öffnet ihr die Vitrine. Soll das Duft sein? Wenn ich einen Magen hätte, würde er sich umdrehen. Und geschminkt ist sie bis zur Unkenntlichkeit. Ihre langen spitzen Nägel klacken an meinen zarten Bügeln. Will sie mich zerkratzen? Oh Mann, das Gesicht klebt, was ist das? Puder mit einer Paste? Ich versuche zurückzukneifen, hüpfe auf der Nase schief. Sie nimmt mich wieder ab und die „hellblaue Pullover“ Frau reinigt meine Bügel vorsichtig mit einem feinen Tuch – herrlich. Draußen rauscht es und der Laden füllt sich mit den vor dem Regen Flüchtenden.

Endlich eine junge Frau. Sie rennt von einer Ecke zur anderen, kann sie in dieser Geschwindigkeit überhaupt etwas erkennen? Und dieser Playboy dahinten. Was will der denn? Seine Brille ist ein Designerstück, die Marke in Gold eingraviert. Sind es nur Gläser ohne Dioptrien?

Der Regen ist vorbei und der Laden leert sich wieder, eine schläfrige Nachmittagsruhe kehrt ein. Eine kleine weißhaarige Frau nähert sich. Die kenne ich doch. Ja! Sie war heute Morgen mit den zwei Wilden da. Ist dieses Lächeln nicht zauberhaft? Sie spricht leise und melodisch, die Stimme ist Musik. Die feinen Linien im Gesicht, wie ein Pergament oder Porzellan? Ich kann mich nicht entscheiden. Was für ein Paar könnten wir zwei abgeben? Ich muss das Licht von draußen einfangen und leuchten. Laut werden! Ich rutsche hin und her, möchte herunterhüpfen. Sie schielt zu mir, ist es möglich? Meine Lieblingsverkäuferin „Hellblaupullover“ schließt die Vitrine auf. „Die Kinder und ich werden sie lieben“, sagt sie mit dieser Märchenstimme. Ihre grünen Augen kommen richtig zur Geltung und die Gläser werden ihr Bestes geben.

Nach einer Woche holt sie mich endlich ab. Jetzt noch ein passendes edles Etui. Ich möchte aber nicht hinein. Auf ihrer schmalen Nase fühle ich mich am wohlsten. Die Aussicht, dass mich ihre Enkelrabauken ab und zu in die Hände kriegen, nehme ich in Kauf. Ich bin eine wählerische Brille, mit Lesedioptrien für die Gutenachtgeschichten. 

 

Copyright © bei Nadezda Vomacka 12/2024

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Nadezda Vomacka © N. Vomacka

Porträt der Autorin:

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Nadezda Vomacka lebte fünfundzwanzig Jahre in Prag, fünfunddreißig Jahre in München und seit 2017 ist sie glücklich an der Nordsee. Die kleine Stadt Garding ist mit dem Segen ihrer zwei erwachsenen Kinder zu ihrer dritten Heimat geworden. Die Kollegen in der Bank, bei der sie über zwanzig Jahre in der IT arbeitete, gaben auf. Die Freude am Programmieren tauschte sie gegen die Begeisterung und Liebe fürs Schreiben, lernen und dafür, am Deich spazieren zu gehen.

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